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Letzte Reisen

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Michael Glawogger ist als großer Weltreisender des modernen Kinos berühmt geworden, mit seinen drei eindrucksvollen Dokumentarfilmen „Megacities“, „Workingman's Death“, beide Filme handeln von dem Thema Ausbeutung in einer globalisierten Welt, und „Whores' Glory“, ein Film über Formen moderner Prostitution. Aber er drehte auch durchgeknallte, anarchische Komödien wie „Contact High“, eine Art Drogen-Roadmovie. Im Dezember 2013 brach er zu einem neuen Projekt auf, „Untitled - Der Film ohne Namen“. Ein Jahr lang wollte er Material sammelnd die Welt umrunden, um daraus einen Film zu machen, ohne Drehbuch, ohne genaues Thema. Bei dieser Reise kam er auf tragische Art ums Leben. Am 22. April 2014 starb der 1959 in Graz geborene Filmregisseur in Monrovia an den Folgen einer falsch diagnostizierten Malaria.

Abbildung: Die Andere BibliothekDie Aufmerksamkeitsspanne von Hunden und Menschen

Für den Doku-Blog der Süddeutschen Zeitung und in seinen Glawogger-Tagebüchern im österreichischen Standard schrieb er regelmäßig über Reiseerlebnisse. Aus seinen Zeitungsbeiträgen und älteren Geschichten haben Glawoggers Frau Andrea und die Schriftstellerin Eva Menasse ein sehr schönes und vielschichtiges Buch zusammengestellt. Ein Jahr nach seinem Tod ist „69 Hotelzimmer“ in diesem Frühjahr erschienen. Weil Glawogger ein Fan von Verwechslungskomödien war, in denen durch das Zuschlagen einer Hoteltür aus der Zimmernummer 69 eine 96 wird, enthält das Buch allerdings nicht 69, sondern 95 Kapitel – die Zahl 13 wird, wie in Hotels, ausgelassen.

Es ist ein Reisebuch im besten Sinne. Die Episoden lassen sich in zehn Minuten lesen, also etwa genau so lang, „bis das Boarding ihres Anschlussfluges beginnt“. Die Kapitel haben die Länge einer Zigarette, wie Glawogger im Vorwort schreibt, und eignen sich wie diese für den Transitbereich, das Zwischendrin jedes Wartens. Und da das Buch seinem Hund gewidmet ist, sei es auch ein Buch für Hunde und Hundebesitzer: „Die Aufmerksamkeitsspanne eines Hundes reicht für ein kleines Kapitel am Tag, das man dem Tier vorlesen kann, ohne dass es ungeduldig wird. Und genau das funktioniert auch für Menschen“. Das klingt lustig, ist wohl aber wahr.

Glawoggers Erzählungen blicken in die Vergangenheit und in die Zukunft. Sie spielen zwischen den Jahren 1936 und 2543 auf allen Kontinenten, oft in Asien und Afrika, häufig aber auch in Europa. Seine Geschichten oszillieren – wie seine Filme – zwischen Dokumentation und absurdem Humor sowie surrealen Einfällen. Immer wieder geht es ums Schlafen, Träumen und Erwachen sowie den Transitbereich dazwischen, in dem vieles möglich und alles denkbar ist. Insgesamt verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie. „Man muss nicht alles denken, was man denken kann, aber man kann sich oft nicht wehren“, heißt es in einer Geschichte. Hotelzimmer waren für Glawogger Fixpunkte in der Fremde, von denen aus er die Orte und Menschen erkundete. In der Fremde ist das Routine-System des Alltags, das immer auch ein Schutzsystem ist, noch nicht hochgefahren. Reisende sind besonders anfällig für fremde und befremdliche Gedanken.

Reisen ohne Ziel und Fahrkarte

Glawogger ist natürlich zu schlau, um nicht an der Authentizität, die Reisende zu erleben glauben, zu zweifeln. Als er etwa in einem Hotel in Thailand einen Journalisten trifft, der nach dem Tod Pol Pots die Hütte, in der der kambodschanische Diktator gestorben war, besuchen durfte, schweifen Glawoggers Gedanken ab. Er sieht im Hintergrund einen Bauern auf einem Ochsenkarren durch den Sonnenuntergang fahren und stellt sich vor, dass dieser Bauer vom Hotel bezahlt wird, um den Hotelgästen allabendlich dieses „atemberaubend kitschige Bild“ zu bieten. Die „Welt ist ein triviales Museum ihrer selbst geworden“, heißt es an anderer Stelle. Außerdem verzerre die mediale Berichterstattung die Wahrnehmung. Von einer Überschwemmungskatastrophe in Thailand, über die CNN gerade berichtet, merkt der Reisende nichts: „Aber man sieht ja das meiste viel besser im Fernsehen. In der Wirklichkeit ist es oft schwer zu finden“. In einer anderen Geschichte erinnert er an die Hinrichtung der Ceaușescus im Jahr 1989: „Die Erbärmlichkeit der Bilder dieser Hinrichtung konnte er nie vergessen. Nichts wird sich ändern, hatte er damals gedacht, so nicht“. Die Medien entscheiden auch, welche Bilder zumutbar sind: „Osama Bin Ladens Tod war nicht zumutbar gewesen, die betroffenen Mienen von Hillary Clinton und Barack Obama hingegen schon“.

Im Nachwort nennt die Schriftstellerin Eva Menasse ihren Freund einen der seltenen Lebenskünstler, die unermüdlich arbeiten, dabei aber nie genervt oder gehetzt, sondern immer heiter und entspannt sind. Sein letztes Filmprojekt „Untitled - Der Film ohne Namen“ hätte die vorläufige Bilanz seines filmischen Schaffens werden sollen. Mit diesem Projekt habe er seine eigene Versuchsanordnung auf die Spitze getrieben. „Dieser Film soll ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt. Wenn man sich von nichts treiben lässt außer der eigenen Neugier und Intuition“, sagte Glawogger vor Antritt der Reise.

Das Buch „setzt das Glück der Glawogger-Filme literarisch fort, die atemraubende Unbefangenheit des Blicks, die kompakte Beschreibung, die Fernes unerwartet vertraut, Naheliegendes irritierend fremd macht“, schreibt Fritz Göttler in der SZ. Den Schlusssatz der letzten Geschichte sollten sich alle Reisende zu Herzen nehmen, wenn sie einmal erleben wollen, „wie einfach doch die Welt war, wenn man ihr nichts beweisen wollte“: „Ohne eine Fahrkarte zu kaufen, bestieg er den nächstbesten Zug und fuhr weiß Gott wohin“.

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